Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen

Aktuelle Familienstrukturen

Kinderreiche Familien in Deutschland – ein Gespräch mit Dr. Elisabeth Müller

Der Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V. (KRFD) setzt sich seit 2011 für Belange von kinderreichen Familien ein. Wir sprachen mit der Vorsitzenden des Verbands, Dr. Elisabeth Müller, über die Situation der Mehrkindfamilien.
Frau Müller, wie viele Kinder machen eine Familie zu einer „kinderreichen Familie“ und was unterscheidet eine kinderreiche Familie von anderen Familien?

Aus Sicht unseres Verbandes sind es drei oder mehr Kinder, die eine Familie „kinderreich“ sein lassen. Dies deckt sich mit der gängigen Definition der „Mehrkindfamilie“, wobei wir keine Anforderungen an das Alter der Kinder oder die Art der Familie stellen. Sprich: Auch eine Lebenspartnerschaft mit bereits erwachsenen Kindern ist uns willkommen.

Den Unterschied zu Familien mit bis zu zwei Kindern sehen wir in eben diesem Reichtum – für die Eltern, die so viele wunderbare Momente mit ihren Kindern erleben dürfen, für die Kinder selbst, die sich im geschwisterlichen Miteinander so viel geben können und für die Gesellschaft, die um emotional gefestigte und ideenreiche Zukunftsträger bereichert wird.

Wo sehen und erleben Sie in Ihrer Arbeit – und vielleicht auch privat – besondere Herausforderungen für kinderreiche Familien?

Es gibt einen Satz, den uns der Medizin-Nobelpreisträger Thomas C. Südhof, selbst siebenfacher Vater, unlängst mitgegeben hat: „In kinderreichen Familien ist oft das Geld knapp, und vieles muss improvisiert werden, aber die konstante Kommunikation zwischen allen kann die soziale und kreative Erziehung in kinderreichen Familien vereinfachen.“ Er fasst nicht nur die Herausforderung zusammen, die unsere Mitglieder, ehrenamtlichen Helfer und ich selbst erleben, sondern er weist auch auf die Lösung hin. Sie lautet Kommunikation – nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in die Gesellschaft hinein.

Wie könnten Mehrkindfamilien besser unterstützt werden? Welche Handlungsfelder sehen Sie und Ihr Verband in Bezug auf Mehrkindfamilien als am dringendsten an?

Es gibt viele Themen, bei denen wir uns als Verband aktiv einbringen. Dazu zählen sicher die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Wohnraumsuche oder eine stärkere finanzielle Förderung. Der Kern unserer Arbeit besteht allerdings zunächst darin, unseren Verband als Botschafter kinderreicher Familien in Deutschland zu positionieren. Wir werden bereits von der Politik beteiligt, von der Wirtschaft als Partner gesucht und sind in den Medien präsent. Unser nächstes Ziel ist es, im breiten gesellschaftlichen Diskurs das Bild von Kinderreichen aufzuzeigen, die nicht kurios, verarmt und überfordert sind – sondern glücklich.

Es wird deutlich, dass Sie einen sehr positiven Blick auf kinderreiche Familien haben. Es gibt jedoch auch eine andere Seite: Auf Ihrer Website zeigen Sie anhand von Statistiken, dass das Armutsrisiko ab dem dritten Kind deutlich ansteigt. Wird dieses Risiko nur damit begründet, dass mehr Kinder natürlich auch mit mehr Kosten verbunden sind?

Auch hier gibt es eine sichtbare und eine verborgene Dimension. Natürlich potenzieren sich die laufenden Kosten mit der Zahl der Kinder. Notwendigkeiten wie Arzneimittelkosten, Heizkosten oder die unzähligen, kleinen Zuzahlungen im Bildungswesen treffen hier auf Familien, in denen es aus reiner Zeitlogik meist nur einen Alleinverdiener gibt. Und je nach Alter der Kinder und Eltern drohen am Horizont schon finanzielle Fragezeichen bezüglich Berufsausbildung und Altersversorgung.
  • Dr. Elisabeth Müller, Vorsitzenden des Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V.

Verschärft wird die Situation noch durch strukturelle Ungleichgewichte beim derzeitigen Rentensystem. Prof. Dr. Martin Werding, der in diesem Jahr hierzu eine Studie für die Bertelsmann-Stiftung verfasst hat, spricht von einer massiven Benachteiligung von Familien. Ein heute 13-Jähriger zahlt während seines Erwerbslebens durchschnittlich 77.000 Euro mehr in die Rentenkasse ein, als er selbst an Rente beziehen wird. Nur Kinderlose brauchen hier nicht mitdenken. Alle anderen dürfen alarmiert sein – zumal, wie Prof. Werding im Rahmen einer Präsentation auf dem ersten Familienkongress unseres Verbandes bemerkte, sich bisher nur wenige Verantwortliche mit dieser wichtigen Projektion befassen wollen.

Bei der Rentenversicherung müssen sicherlich noch dicke Bretter gebohrt werden, um langfristig Erfolge zu erzielen. Die Verbandsarbeit ist im Alltag doch oft „kleinteiliger“, oder? Wie werden Sie direkt vor Ort tätig?

Vor Ort setzen wir auf die Vernetzung der Mitgliedsfamilien, die Verstärkereffekte von Veranstaltungen sowie die Verbreitungswirkung lokaler Medien. Konkret veranstalten wir Stammtische und Familienfeste, wir verleihen unser Fair-Family-Siegel an Unternehmen, die kinderreiche Familien besonders berücksichtigen, sind bei Messen und Podiumsdiskussionen präsent und informieren die lokalen Medien über unseren Verband. Ferner stellen wir bundesweit den Kontakt zwischen kinderreichen Familien, die sich zuvor dazu bereit erklärt haben, und Medien (insbesondere TV) her. So leisten wir unseren Beitrag zu einer differenzierten und differenzierenden Berichterstattung über kinderreiche Familien.


Wie schaffen Sie es, in diesem recht jungen Verband diese Aufgaben zu bewältigen?


Sämtliche Funktionen innerhalb unseres Verbandes werden von ehrenamtlichen Mitgliedern gestemmt, die alle selbst eine kinderreiche Familie haben. Bundesweit engagieren sich über 70 Mitglieder in Feldern wie der Mitgliederverwaltung, dem Fundraising oder der Lobbyarbeit. In NRW sind es bereits über 30 ehrenamtliche Mitglieder, die zum Beispiel Familienfeste organisieren oder bei Parteitagen, Messen und Kongressen vor Ort sind.

Viele kinderreiche Familien haben einen Migrationshintergrund. Benötigt diese Gruppe besondere Unterstützung oder Beratung?

Für Familien mit Migrationshintergrund bieten wir eine ehrenamtliche, kostenlose Beratung durch eines unserer Mitglieder an, das selbst einen Migrationshintergrund hat. Die tatsächliche Nachfrage an unseren Verband bestätigt allerdings nicht, dass kinderreiche Familien mit Migrationshintergrund einen höheren Beratungsbedarf hätten als beispielsweise Alleinerziehende oder Mitglieder, die allgemeinen Rat in sozialen Angelegenheiten suchen.

Die Lebensbedingungen für Familien entscheiden sich vor Ort, in der direkten Umgebung. Was können Kommunen Ihrer Meinung nach besser machen?


Kinderreiche sind ein strategischer Standortvorteil und wir beobachten in letzter Zeit verstärkt, wie Städte und Gemeinden Kinderreiche in Familienbündnisse einladen oder im Umfeld familienrelevanter Sachverhalte anhören. Ein Organisationsgrad, wie ihn unser Verband mittlerweile erreicht hat, hilft dabei beiden Seiten. Mit dem erwähnten Zuhören und der Förderung der Vernetzung von Kinderreichen mit anderen familiennahen Vereinen sind die Kommunen also bereits aktiv involviert. Ausgehend von dieser Basis arbeiten wir daran, konkrete Verbesserungen für kinderreiche Familien zum Beispiel bei der Wohnraumsuche, im öffentlichen Nahverkehr oder beim Eintritt zu öffentlichen Einrichtungen (Museen, Bäder) zu erwirken.

Gerade beim letztgenannten Punkt ist eine oft genannte Möglichkeit, Familien zu unterstützen eine sogenannte „Familienkarte“. Ihr Verband betreibt auch das Onlineportal „deutschlandfamilienkarte.de“, das einen Überblick über Familienkarten in den einzelnen Bundesländern und Kommunen bietet. Wie schätzen Sie das Angebot derzeit ein? Hat sich bezüglich der Ermäßigungen für Familien in den letzten Jahren viel verändert?


Auf Landes- und Landkreisebene wird eine institutionalisierte Lösung meist nicht uneingeschränkt befürwortet, aber es gibt gerade in Süddeutschland einige sehr wache Kommunen. Wir erleben in unserer Arbeit, dass das Stichwort „Familienkarte“ hilft, den Dialog mit Städten und Gemeinden zu öffnen und über konkrete Vergünstigungsregelungen für Einrichtungen wie Museen, Schlösser oder Schwimmbäder zu sprechen, die tatsächlich im jeweiligen Verantwortungsbereich liegen. Natürlich streiten wir hier auch für die Ein- und Zweikindfamilien mit. Häufig besteht unsere Herausforderung aber darin, auf Regelungslücken aufmerksam zu machen, wenn eine Familienermäßigung nur bis zu vier Personen vorsieht. Meist herrscht hier keine Absicht – es hat nur kein Verantwortlicher daran gedacht, dass auch eine achtköpfige Familie vor dem Planetarium stehen könnte.

Neben den Kommunen sind die Unternehmen wichtige Partner, wenn es um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, auch und besonders bei Mehrkindfamilien. Was raten Sie Unternehmen?

Unternehmen müssen sich im „Jetzt“ noch stärker bewusst machen, welche spezifischen Kompetenzen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitbringen, die eine kinderreiche Familie managen. Sie sollten dies umso mehr tun, als es im „Morgen“ noch schwieriger für sie wird, Fachkräfte zu gewinnen. Kinderreiche Arbeitnehmer haben sehr feine Antennen für Rahmenbedingungen – vor und hinter der Haustür. Gerade gründergeführte Unternehmen und Familienunternehmen wertschätzen diese Fähigkeit. Großkonzerne sollten ernsthaft abwägen, ob sie sich kurzfristigen Kampagnen zur raschen Arbeitskraftrückführung verschreiben oder auch einer langfristigen Strategie die Chance geben. In diesem Zusammenhang ist unser Verband bereits tätig. Besonders familienfreundliche Unternehmen können von uns mit dem Fair-Family-Verbandssiegel ausgezeichnet werden.


Über den KRFD


Der Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V. ist im Jahr 2011 aus der Initiative engagierter kinderreicher Familien entstanden, vertritt 1,2 Millionen kinderreicher Familien in Deutschland und setzt sich in Politik, Wirtschaft und Medien für die Interessen von Familien und Kindern ein. Der Verband versteht sich als Netzwerk von Mehrkindfamilien, die sich untereinander unterstützen und die Öffentlichkeit für ihre Anliegen erreichen wollen. Der Verband ist überkonfessionell und überparteilich.


Das Interview führte Joscha Link. Wir danken Dr. Elisabeth Müller für das Gespräch.

Foto: © privat


Erstellungsdatum: 05.01.2015, letzte Aktualisierung am 05.01.2015
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