Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Familienzeiten und Zeitpolitik – Ein Gespräch mit Dr. Martina Heitkötter

Dr. Martina Heitkötter vom Deutschen Jugendinstitut in München befasst sich schon seit Langem mit Zeitkonflikten von Familien und mit lokaler Zeitpolitik. Faktor Familie sprach mit ihr über Zeitstress in Familien und über die Herausforderungen für Kommunen.
Sie haben sich mit dem Alltag von Familien beschäftigt, welche Rolle spielt die „Zeit“ für das Familienleben?

Zeit ist eine wesentliche Grundvoraussetzung für ein gelingendes Familienleben und zwar sowohl Zeit, die die Familienmitglieder gemeinsam verbringen können, wie auch Zeiten, die jeder auch mal für sich braucht, um wieder Kraft zu tanken und sich zu regenerieren. Liebevolle, stabile Fürsorgebeziehungen zu den Kindern wie zu den Großeltern brauchen Zeit ebenso wie die alltägliche Versorgung, das Einkaufen, die Arztbesuche usw., aber auch die verschiedenen Leistungen, die Familien vielfach im Bereich der Bildung oder der Gesundheitsvorsorge erbringen.

Man kann sagen, dass Zeit ein zentraler Faktor ist für die gelingende Alltagsorganisation, für das Wohlbefinden, die Lebensqualität und letztlich auch für Erfahrungen der Sinnhaftigkeit. Dabei brauchen wir nicht nur eine gute Organisation von Zeiten im Alltag, sondern auch „unverzweckte“, freie Zeiten.

Sie sprechen von „Familienzeiten“, was verstehen Sie unter diesem Begriff?

Familienzeiten sind wie bereits angedeutet vielschichtig. Aktuell stehen meist die gemeinsame Zeit, die Familienmitglieder bei den Malzeiten, am Wochenende oder bei besonderen Anlässen zusammen verbringen im Vordergrund. Diese Dimension der Familienzeiten ist sehr wichtig, aber es gibt auch andere wesentliche Ebenen, die es zu berücksichtigen gilt, möchte man Familien insgesamt zeitlich besser stellen: Beispielsweise sind Mütter und Väter nicht nur Eltern, sondern häufig auch Mann und Frau in einer Partnerschaft und Individuen mit eigenen Interessen und Bedürfnissen, die nicht in der Rolle der Mutter, des Partners oder der Arbeitnehmerin aufgehen. Auch das ist letztlich als Familienzeiten zu behandeln.

Darüber hinaus prägen auch die Beziehungen zu den Großeltern, zu Freunden, aber auch exklusive Zeiten, die Väter oder Mütter allein mit ihren Kindern verbringen, das Familienleben. Von daher plädiere ich stark für ein weites Verständis von Familienzeiten.

Welche Rolle spielt dabei die Erwerbstätigkeit der Eltern?

Die Erwerbstätigkeit der Eltern ist ein wesentlicher sogenannter Taktgeber für das Familienleben. Da zunehmend auch Mütter erwerbstätig sind, spielen die zeitlichen Anforderungen der Erwerbswelt über flexible Arbeitszeiten, spontane Meetings am späten Nachmittag oder Dienstreisen über Nacht von zwei Seiten her in die Familie hinein. Auch wenn viele Mütter in Deutschland nach wie vor in Teilzeit beschäftigt sind, stehen sie nicht mehr, wie in früheren Zeiten, als zeitlicher „Puffer“ zur Verfügung.

Stehen Familien heute vor besonderen, zeitbezogenen Herausforderungen?

Ja, davon können wir ausgehen. Dafür sind die bereits angesprochene gestiegene Müttererwerbstätigkeit, die zunehmende Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitswelt verantwortlich, wie auch andere Faktoren wie die wachsende Vielfalt von Familienformen, steigende eigene wie gesellschaftliche Ansprüche an das Elternsein und die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, was zu erhöhtem, meist zeitintensivem Aushandlungsbedarf führt.

Alle Familienmitglieder zeitlich unter einen Hut zu bekommen ist auch mit Blick auf die häufig vielfältigen außerschulischen Aktivitäten von Kindern, die meist das „Mama-Taxi“ brauchen, um von der Schule zum Fußballtraining, zum Tanzunterricht oder zur Musikschule zu kommen, kein leichtes Unterfangen.

Was sind die Folgen von „Zeitknappheit“?

Aus unserer Sicht ist es nicht in erster Linie die Knappheit an Zeit, die Probleme im Familientag verursacht, sondern häufig die Frage der Passung zwischen den Anforderungen des Alltags einerseits und den Zeittakten im örtlichen Lebensumfeld: Der Familienalltag ist eingewoben in ein ganzes Netz lokaler Zeittakte, angefangen von den Betreuungs- und Schulzeiten, den Arbeitszeiten, den Zeiten, an denen Geschäfte, Ärzte, Handwerker oder andere Dienstleister geöffnet sind.

Da die veränderten Bedingungen der Arbeitswelt und die gewandelten familialen Lebensbedingungen noch nicht überall mit den Zeittakten der örtlichen Infrastruktur gut zusammenpassen, spannt es zeitlich mit der Folge, dass Familien ihren Alltag als einen stressigen Hürdenlauf und als ein erschöpfendes Vereinbarkeitsmanagement erleben, aber nicht mehr als eine qualitativ erfüllende und befriedigende Zeit.

Gibt es Familien, die ganz besonders von Zeitstress betroffen sind?

Ja, seit dem siebten Familienbericht wissen wir, dass Familien mit kleinen Kindern und solche, in denen beide Eltern (Vollzeit) erwerbstätig sind, Mehrkindfamilien und Alleinerziehende in besonderem Maße von Zeitkonflikten betroffen sind. Aber auch besondere Konstellation und Lebenslagen wie Schichtarbeiter/innen, Pendler/innen oder Neubürger/innen beispielsweise, die noch nicht über ein tragfähiges soziales Netz verfügen und sich Vieles erst erschließen müssen, stehen unter besonderem zeitlichen Druck.

Können Sie einige Grundsätze nennen, auf die Kommunen bei der Umsetzung familienorientierter Zeitpolitik besonders achten sollten?

Grundsätzlich ist Zeitpolitik für Familien nicht isoliert zu betrachten, sondern als ein Bestandteil eines Dreiklangs nachhaltiger Familienpolitik, der auch in gleichem Maße die Infrastruktur sowie Geldleistungen für Familien im Blick hat. Kommunen sind in besonderer Weise bei der Zeitpolitik angesprochen, da die Lebensbedingungen des Alltags, in dem Familie stattfindet, stark vor Ort entschieden werden. Familienorientierte Zeitpolitik sollte sich daran ausrichten, Männern wie Frauen zu ermöglichen, Familie, Beruf sowie bürgerschaftliches Engagement zu verbinden, die zeitliche Eigenlogik von Familien zu respektieren, im Verhältnis der Generationen zueinander wechselseitige Unterstützung und Autonomie zu unterstützen.

Auf der methodischen Ebene geht es darum, eine kontinuierliche Wissensbasis zu zeitbezogenen Themen aufzubauen (siehe z.B. kommunale Familienberichterstattung), Mitgestaltungsmöglichkeiten für Familien zu eröffnen sowie öffentliche Diskurse über Werte und Eckpunkte lokaler Zeitgestaltung für mehr familialen Zeitwohlstand anzustoßen.

Wo liegen Ihres Erachtens die wichtigsten zukünftigen Herausforderungen für die Kommunen?

Es ist ein Grundverständnis zu erzeugen und zu vermitteln, dass kommunale Zeitpolitik ein Vorteil für alle ist und daher eine Kernaufgabe werden muss und keine Kür für gute Zeiten darstellt. Es geht um nichts weniger als attraktive Lebensbedingungen für Familien in Zeiten des demografischen Wandels und damit um einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit einer Kommune. Ansätze lokaler Zeitpolitik sind dabei geschickt strukturell und strategisch vor Ort zu verankern und mit Vorhandenem in anderen familienpolitischen Handlungsfeldern und auf anderen Handlungsebenen zu integrieren.


Das Interview führte Joscha Link. Wir danken Dr. Martina Heitkötter für das Gespräch.


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Erstellungsdatum: 24.09.2013, letzte Aktualisierung am 31.10.2013