Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen

Praxis vor Ort

Beispiel guter Praxis:
Darmstadt-Kranichstein: „Kinder als Bauherren“

In Darmstadt-Kranichstein sind Kinder und Jugendliche Projektpartnerinnen und -partner bei öffentlichen Bauvorhaben an Gebäuden und Anlagen, die für ihre Nutzung bestimmt sind. Gemeinsam mit Fachleuten des jeweiligen Planungsbüros entwickeln sie Gestaltungsideen und diskutieren diese.
Auch bei der Umsetzung packen die Mädchen und Jungen mit an. Die in dieser konstruktiven Zusammenarbeit entstandenen Gebäude und Anlagen erfahren von den Nutzerinnen und Nutzern eine bisher nicht gekannte Wertschätzung. Die Beteiligung der jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer bei Bauprojekten ist in das Standardverfahren der Stadt übergegangen und wird heute auch in anderen Stadtgebieten praktiziert.

 

Bezeichnung des Projekts und Laufzeit

Unter der Bezeichnung „Kinder als Bauherren“ fasst die Wissenschaftsstadt Darmstadt Bauprojekte zusammen, die im Stadtteil Kranichstein im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ durchgeführt wurden und an denen Kinder und Jugendliche beteiligt waren. Ziel des Programms „Soziale Stadt“ ist es, die Wohn- und Lebensverhältnisse in Stadtteilen zu verbessern, in denen sich soziale, wirtschaftliche und städtebauliche Probleme besonders häufen.

 

Ausgangssituation / Anlass

Das Fördergebiet in Darmstadt-Kranichstein umfasst das Zentrum des Stadtteils. „Die Ernst-May-Siedlung mit Hochhausscheiben und angrenzender Flachdachsiedlung gibt dem Gebiet sein Gesicht“, berichtet Christina Illi vom Planungs- und Architekturbüro Freischlad + Holz, das von der Stadt Darmstadt mit dem Stadtteilmanagement zur Koordination und Durchführung des Projekts „Soziale Stadt“ in Darmstadt-Kranichstein beauftragt ist. Viele Personen in finanziell und sozial schwierigen Lebenslagen bewohnen die Häuser. Mit 76 unterschiedlichen Nationalitäten ist der Stadtteil multikulturell geprägt. „In den vielfach sozial gebundenen Wohnraum ist vor Projektbeginn wenig investiert worden. Zahlreiche Gebäude wirkten heruntergekommen“, berichtet die Architektin. „Der Stadtteil hatte ein negatives Image.“

Eine Haushaltsbefragung in Kranichstein im Jahr 2002 ergab Handlungsbedarf in Bezug auf die Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche. „Auf die Frage, was vordringlich im Wohngebiet geschehen sollte, wird an erster Stelle die Grün-, Frei- und Spielflächengestaltung (15 Prozent der abgegebenen Fragebögen) genannt. Auf den nachfolgenden Stellen folgen mehr Treffpunkte für Kinder und Jugendliche (14,6 Prozent), Sicherheit über Beleuchtung und Freiraumgestaltung (14,5 Prozent) und die Modernisierung / Instandsetzung der Wohnungen und der Wohngebäude (12 Prozent)“, heißt es in der Auswertung der Befragungsergebnisse.

 

Zielgruppe und Ziele

Damit die Baumaßnahmen die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner treffen, von ihnen geschätzt und angenommen werden, bezieht die Stadt sie in den Erneuerungsprozess ein. In Darmstadt-Kranichstein waren das vielfach Kinder und Jugendliche. Die Stadt investierte die im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ bewilligten Fördermittel rund zur Hälfte in bauliche Projekte für diese Zielgruppe. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen liegt im Stadtteil Kranichstein bei 26 Prozent und damit zehn Prozent über dem Durchschnitt der Gesamtstadt.

 

Beteiligte

Die Zuständigkeit für die Abwicklung des Gesamtprojekts „Soziale Stadt Kranichstein“ liegt beim Stadtplanungsamt der Wissenschaftsstadt Darmstadt, das eng mit dem Sozialdezernat zusammenarbeitet.

Stadtteilmanagement: Das vom Stadtplanungsamt mit dem Stadtteilmanagement beauftragte Architekturbüro Freischlad + Holz ist für die Koordination, Begleitung, Vernetzung und Entwicklung von Projekten und Maßnahmen im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ sowie für Öffentlichkeitsarbeit, Finanzmanagement und Akquisition von Drittmitteln zuständig.

Stadtteilwerkstatt: Die von der Stadt beauftragte Stadtteilwerkstatt unter Leitung des Caritasverbands Darmstadt e.V. und des Diakonischen Werkes Darmstadt-Dieburg bietet mit einem Büro im Stadtteil eine direkte Anlaufstelle für Bewohnerinnen und Bewohner. Sie koordiniert die Beteiligung der Bevölkerung an den Maßnahmen des Projekts „Soziale Stadt“.

Weitere wichtige Beteiligte sind die für die Umsetzung der einzelnen baulichen Projekte beauftragten Planungsbüros und eine Arbeitsgemeinschaft, die die offene Jugendarbeit im Stadtteil koordiniert.

 

Vorgehen im Beteiligungsprozess

  • Quellenangabe: Freischlad + Holz, Planung und Architektur
Im Jahr 2000 führte Professor Bernhard Mayer von der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt in Kranichstein ein Stadtteilerkundungsprojekt mit Kindern und Jugendlichen durch. Dabei zeigten Kinder ihre Spielorte und bewerteten vorhandene Spielmöglichkeiten. Wesentliche Erkenntnisse aus dem Prozess waren, dass Kinder vielfach Spielorte aufsuchen, die in keinem Spielplatzplan verzeichnet sind. Sie prüfen Orte auf ihre Nutzungsmöglichkeit und eignen sich vor allem Materialien aus der Natur (Baumstämme, Steine) an. Die angebotenen Spielplätze machten oft ein Querschnittsangebot, damit für alle Altersgruppen Spielgeräte zu finden sind, stellten damit aber keine Gruppe zufrieden. Die Projektauswertung mit dem Titel „Spielräume in Kranichstein“ bildete eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der Spielmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“.

Die daraus abgeleiteten Einzelprojekte wurden an Planungsbüros vergeben, die auch den Beteiligungsprozess mit den jugendlichen Nutzerinnen und Nutzern gestalteten. Bernhard Hoppe, Geschäftsführer von Die Werkstatt – Spielart in Heidelberg, der für zwei Einzelprojekte verantwortlich zeichnete, berichtet: „Bevor wir mit der Planung der Projekte beginnen, veranstalten wir Beteiligungsworkshops mit den Kindern bzw. Jugendlichen, die die Anlagen nutzen. Wir starten mit einer gemeinsamen Begehung des Geländes. Die Kinder zeigen ihre Lieblingsplätze genauso wie Stellen, die ihnen gar nicht gefallen. Anschließend malen die Kinder Bilder und erstellen Tonmodelle, mit denen sie ihre Ideen für das Areal veranschaulichen. Wir stellen die Vorschläge aus und alle Kinder bzw. Jugendlichen können mit Punkten bewerten, wie ihnen die einzelnen Ideen gefallen.“ Oft entwickelt sich in den Workshops auch eine übergeordnete Themenidee für die Gestaltung des Geländes. Die Fachleute des Planungsbüros stehen anschließend vor der Herausforderung, die Ideen der Kinder und Jugendlichen mit den finanziellen Möglichkeiten und Wünschen bzw. Vorgaben durch die Kommune, den Träger und ggf. die Einrichtungsleitung zu verbinden. „Viele Ideen der Kinder oder Jugendlichen übernehmen wir genau so, wie sie von ihnen entwickelt wurden. Sie finden dann ihre 'Handschrift' wieder und können vieles sogar selbst umsetzen.“

Das Planungsbüro erstellt einen Einsatzplan, der den generellen Bauablauf und die Mitmachaktionen für die Kinder aufeinander abstimmt. Dabei übernehmen die Heranwachsenden Aufgaben wie: Mauern errichten, Löcher graben, Wände bemalen, Mosaike kleben und mit kleinen Schubkarren ganze Wagenladungen Sand in den künftigen Sandspielbereich befördern. Gehört der zu gestaltende Spielbereich zu einer Einrichtung, übernehmen die Pädagoginnen und Pädagogen die Aufsicht. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Planungsbüros begleiten und unterstützen die Ausführung der Arbeiten fachlich.“

 

Ergebnisse

  • Quellenangabe: Freischlad + Holz, Planung und Architektur
„Unsere Erfahrung ist, dass die Kinder sehr praktikable Vorschläge machen, die sich vielfach gut realisieren lassen“, sagt die Stadtteilmanagerin. Wenn es um die Gestaltung eines Außengeländes gehe, stünden zum Beispiel die Klassiker „Schaukel“, „Rutsche“ und „Klettergerüst“ quasi immer mit auf der Hitliste. „Für einen Spielplatz hat der Spielplatzbauer auf Anregung der Kinder ein neues Spielgerät entwickelt, dass sich vor allem durch 'Wackelstufen' auszeichnet, die auf eine Brücke führen“, berichtet Christina Illi. „Für das Außengelände des Hortes wünschten sich die Kinder zum Beispiel eine große Wasserstelle und ein Weidenlabyrinth.“ Ein besonderes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, die späteren Nutzerinnen und Nutzer in der Planungsphase gut mit einzubeziehen, ist das Jugendcafé Chillmo. „Anders als viele Erwachsene das erwartet hätten, entschieden sich die Jugendlichen dafür, das Gebäude ganz streng und schlicht zu halten“, erklärt Christina Illi. „Zunächst beschlossen die Mädchen und Jungen, dass das Haus schwarz gestrichen werden sollte. Als das nicht ging, wählten die Jugendlichen einen weißen Anstrich. Auch in den Innenräumen suchen Besucherinnen und Besucher zum Beispiel vergeblich nach Kuschelsofas. Alles ist schlicht und sehr modern eingerichtet – eher im Bauhausstil.“

Der Erfolg von „Kindern als Bauherren“ zeigt sich auch in der guten Nutzung der neu gestalteten Gebäude und Flächen und daran, dass es kaum Vandalismus gibt. „Ein gutes Beispiel dafür ist das Jugendcafé Chillmo. Es wurde Anfang 2006 eingeweiht. Seitdem ging keine einzige Scheibe zu Bruch“, berichtet Christina Illi. „Die Beteiligung steigert den Wert der Gebäude und Gelände für die Kinder und Jugendlichen. Sie haben das Gefühl, etwas geschaffen zu haben, nehmen es bewusster wahr, schätzen und pflegen es.“ Interessanterweise scheint der Effekt anzuhalten und an jüngere Kinder weitergegeben zu werden, die die Anlagen „übernehmen“. Bernhard Hoppe führt das unter anderem darauf zurück, dass die Gebäude und Gelände vielfach sichtbar die Handschrift der Kinder und Jugendlichen trügen und daher insgesamt stärker respektiert würden.
Für die kinder- und jugendgerechte städtebauliche Entwicklung erhielt das Darmstädter Projekt „Kinder als Bauherren“ bereits mehrere Auszeichnungen.

 

Verstetigungsprozess

„Die Stadt Darmstadt hat aus den Erfahrungen in Kranichstein viel gelernt. Die Beteiligung der jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer bei Bauprojekten ist in das Standardverfahren der Stadt übergegangen und wird heute auch in anderen Stadtgebieten praktiziert“, berichtet Christina Illi.

Die Wissennschaftsstadt Darmstadt legte verbindlich fest:
  • „Kinder und Jugendliche grundsätzlich und immer in sie betreffende Planungen einzubinden,
  • Kinder und Jugendliche raumorientiert, projektorientiert sowie prozesshaft zu beteiligen,
  • weitreichende Beteiligungen von der Analyse über die Planung bis zur Umsetzung möglich zu machen,
  • die kurzfristige Umsetzung von Planungen sicher zu stellen, um die Aktivitäten von Kindern zeitnah, d.h., für sie erfahrbar zu Ergebnissen zu führen.“
„Damit übernehmen Kinder und Jugendliche eine wichtige Multiplikatorenfunktion im Entwicklungs-prozess ihrer Stadtteile“, sagte der frühere Sozialdezernent Jochen Partsch, der heute Oberbürgermeister der Wissenschaftsstadt Darmstadt ist.

Im Nachhaltigkeitskonzept für Kranichstein wurde verankert, dass das Stadtteilmanagement und die Stadtteilwerkstatt in ihren wesentlichen Funktionen und als Anlaufstellen für die Bewohnerinnen und Bewohner über den Projektzeitraum hinaus weiter bestehen bleiben.

 

Ansprechpersonen / Kontaktdaten

Birgitte Holz
Freischlad + Holz
Planung und Architektur
Spreestraße 3 a
64295 Darmstadt
E-Mail: office(at)freischlad-holz.de
www.freischlad-holz.de

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